Dem Wort Heimatdichter haftet ein Makel an. Heimatdichter ist, wer aus seinem Kaff nicht herauskommt und ohne je etwas anderes gesehen zu haben, dessen unvergleichliche Schönheit besingt. Das Wandeln auf den Spuren der Heimatdichter war das Schlimmste im Deutsch-Leistungskurs. Es war Anfang der Neunziger Jahre. Ohnehin wusste bei uns niemand mehr, was Heimat ist. Wir wollten lieber etwas lernen. Und sei es das Fürchten. Wir lasen Stephen King. Wir sind ausgezogen, gleich nach dem Abitur.
Bevor es soweit war, mussten wir aber wandeln. Karl Weise, Volksdichter und Drechslermeister. Julius Dörr, Sparkassenleiter und in der Freizeit Mundart-Poet. Fontane natürlich, weil der in Brandenburg überall mal durchreiste. Victor Blüthgen, tatsächlich Schriftsteller. Seine Gedichte für Kinder kenne ich aus dem Lesebuch meiner Mutter vytorin 10 80. Nur zwei Frauen, die zudem unter Männernamen veröffentlichten: Ottilie von Below und Berta Lask. Die kamen im Deutschkurs aber nicht vor.
Ich bin zur Schule gegangen, wo Blüthgen, Dörr und Weise lebten, und wo Fontane durchreiste. Straßen tragen ihre Namen, Plaketten an Wohnhäusern erinnern an sie. Ein sehr gelungener Geschichtsunterricht hätte das werden können. Aber nein, Literatur! Wir sollten das lesen und einen Begriff von Heimat daraus schöpfen. Wir schöpften. Wenn das Heimat ist, muss ich hier weg. Das war, was wir schöpften. Denn die Heimat von Blüthgen, Dörr und Weise – das Dorf mit den fünf Hühnerchen, die Ritter von Uchtenhagen, auf der Straße gesprochenes Platt – gab es nicht mehr. Wir hatten Plattenbauten, Altersheime, LPG-Höfe, eine Esso- und eine Shell-Tankstelle. Um die Landschaft herum wurde gerade eine schöne, zweispurige Umgehungsstraße gebaut. Auf dem Kopfsteinpflaster der Altstadt ließ sich ohnehin nur ganz blöd Fahrrad fahren. Unsere Heimatdichter spiegelten ihre Zeit, nicht unsere Heimat. Wir hatten nur zufällig die gleichen Wohnorte erwischt.
In der Schule habe ich aber auch ein Lied über die Heimat gelernt, das ohne seine letzte Strophe eine prima Hymne der Freiwilligen Ökologen abgäbe.
Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer,
Unsere Heimat sind auch all die Bäume im Wald.
Unsere Heimat ist das Gras auf der Wiese, das Korn auf dem Feld,
Und die Vögel in der Luft und die Tiere der Erde
Und die Fische im Fluss sind die Heimat.
Und wir lieben die Heimat, die schöne.
Und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört,
Weil sie unserem Volke gehört.
Diese Heimat, das sind Fontanes Landschaften. Heimatdichterisch gesehen eine solide Wahl und beständiger jedenfalls als die Menschen darin. Noch dazu war Fontane umtriebig genug, sich nicht auf eine Fünfstraßen-Ortschaft zu beschränken. Es musste die ganze Mark Brandenburg sein. Alles oder nichts.
Schließlich gibt es eine dritte Art Heimatdichter, nämlich die, die gar keine sind. Auch Bertolt Brecht musste schließlich irgendwo wohnen. Ganz Buckow ist froh darum. Franz Kafka sollte der Ordnung halber im Stadtwappen von Prag geführt werden. Die Gemeinde Feldberger Seenlandschaft hat immerhin Hans Fallada vorzuweisen, der in Carwitz lebte. Und in der Uckermark? Da gibt es Angermünde, und in Angermünde gab es Ehm Welk.
Ehm Welk war einer der Dichter, die in meinem Deutsch-Kurs als Heimatdichter eingeordnet wurden. Das ist zu einem nicht unerheblichen Teil darauf zurückzuführen, dass er in Biesenbrow bei Angermünde geboren wurde, dort zur Schule ging und eben später berühmt wurde. Seht alle her, auch einer aus Biesenbrow kann es zu etwas bringen! Sohn seiner Stadt. Einer von uns. Ein bißchen sind wir alle Ehm Welk. Ehm Welk verließ Biesenbrow, als er 16 Jahre alt war. Er hat viele andere Gegenden gesehen. Und ein KZ von innen.
Ehm-Welk-Straßen gibt es in Berlin und Rostock. Eine Schule, eine Bibliothek, zwei Gedenkstätten und eine Verlagsbuchhandlung sind nach ihm benannt. Das wiederum ist zu einem guten Teil dem Werk Ehm Welks geschuldet. Sein bekanntester Roman „Die Heiden von Kummerow“ von 1937 ist in der Angermünder Gegend angesiedelt. Seht alle her, unser Dorf ist in die Weltliteratur eingegangen! Es darf auch gewandelt werden. Der Landkulturverein Biesenbrow „Die Erben von Kummerow“ bietet Führungen auf Ehm Welks Spuren an.
Dennoch habe ich Ehm Welk gerne gelesen. Anders als Weise, Dörr und Blüthgen. Dem Deutschunterricht zum Trotz. In your face, Heimatdichterei! Und weil es so gut zu den Uckermark-Geschichten passt, die ich hier sammle, werde ich jetzt wieder damit anfangen. Ich weiß nicht, ob von heute aus gesehen ein erkennbares Stück Heimat darin steckt, ganz gleich ob Wohnort oder Landschaft. Aber die Buchbestellung ist eben rausgegangen.
Auch der kleine Björn wurde einst Angermünde geboren. Heimat! Ich durfte damals™ “nur” die Gustav Bruhn POS besuchen. Aber auch dort war Ehm Welk sehr präsent.
Vielen Dank für diesen schnaften Beitrag. 🙂
Dankeschön und gern geschehen! Ich bin gerade dabei, einen Angermünde-Podcast vorzubereiten 🙂 Das interessante ist: Alle erinnern sich gerne an ihr altes zuhause, sind aber doch froh, dass sie nicht da wohnen müssen. Also: Ich auch. Ich vermisse mein komisches Dorf. Aber ohne Späti ist halt kein Leben.
Das stimmt wohl. Obwohl ich nicht dafür verantwortlich bin. Meine Eltern haben mich seinerzeit nach Berlin zwangsumgesiedelt. In den Freien war ich fast immer in Herzsprung am kl. Parsteiner See. Schöne Erinnerungen. Mitte 2003 habe ich einen erneuten Wohnversuch im Brandenburgischen gestartet. Aber auch dieses Projekt habe ich abgebrochen, diesmal freiwillig.
Im Sommer 2014 war ich seit Jahren mal wieder am Wolletzsee, wo meine Großeltern einst das “Strandlokal” führten. Da habe ich kurz in mich reingehört, wie es denn wäre, wenn … Abends in Friedenau war es dann aber auch wieder sehr schön. Ick bin ein Berliner, mal wieder 🙂
Ich bin gespannt auf den Podcast!
(Btw: könntest du mich, wenn nichts dagegen spricht, bei Twitter entblocken? Danke! :))
Auweia. Behoben! (Ich wusste gar nicht, dass Du geblockt warst. Das soll ja so nicht sein.)
Ich bin immer noch am Grübeln. Vielleicht bin ich noch nicht lange genug in Berlin. Vielleicht wird das alles noch. Ich hab auch immer noch Heimweh. Das ist im Sommer am schlimmsten, weil ich immer noch nicht gerne in Parks gehe und nie verstanden habe, warum sich Menschen auf eine Wiese setzen, wenn da gar kein See ist.
Ich war meistens am großen Parsteiner See, da ist man von Hohenwutzen aus gut mit dem Fahrrad hingekommen. Später mit dem Moped. Noch später mit dem Auto.