Fürstenwerder. Ich war sicher, nie zuvor dort gewesen zu sein. Fürstenberg ja, Fürstenau auch, Fürstenwalde sowieso. Aber Fürstenwerder? Bebaute Chausseestraße, Brandenburger Straßendorf. Wir sind vielleicht mal durchgefahren, irgendwoanders hin, wo es was zu sehen gibt, wo es interessant ist. Oder wenigstens schön.
Fürstenwerder hat einen Buchladen. An den hätte ich mich erinnert wie an die Prager Antiquariate, in denen ich vor zwanzig Jahren zuletzt war. In viel zu schmalen Gängen streifen die Ellenbogen mit jeder Bewegung Buchrücken, und die Leiter für die oberen Reihen steht da nicht zum Spaß. Niemandem wäre es in den Sinn gekommen, hier Dinopflaster in Blechdosen, bedruckte Luftballons oder Prinzessinnenfedertaschen zu verkaufen. Die Läden waren schon vor zwanzig Jahren über der Zeit. Ich erinnere mich gut an sie.
Den Buchladen in Fürstenwerder gibt es aber, und wäre ich je dort gewesen, hätte er mir einfallen müssen, als wir das Auto davor abgestellt haben. Ein Eckhaus, die großen Schaufenster nicht nennenswert dekoriert. Ein ehrlicher Buchladen, der sagt: Du kannst hier Bücher kaufen, neue oder alte, gelesene und ungelesene, mit Bildern drin und ohne, aber jedenfalls Bücher. Denn dies ist ein Buchladen. Kein Spielzeugladen, kein Tassenladen, kein Bastelladen und Kekse gibt’s auch nicht. So ein Buchladen ist das. Den hätte ich nicht vergessen.
Ein Buch ist schuld, dass wir jetzt da parken, vor dem Buchladen in Fürstenwerder. Saša Stanišić hat sich Fürstenwerder ausgesucht. Sein Fürstenfelde aus “Vor dem Fest” ist an dieses Fürstenwerder angelehnt, in dem jetzt unser blaues Auto steht, und ich vor einem Rätsel. Warum von allen Orten in der Uckermark ausgerechnet dieser? Ich nehme mir vor, ihn das zu fragen.
Treffpunkt ist die Alte Molkerei. Die ist keine Molkerei mehr, die ist eine Pension in der Nähe eines Bahnhofs, der auch kein Bahnhof mehr ist. Lauter Menschen, die “Vor dem Fest” gelesen haben, stehen an der Alten Molkerei und möchten von Saša Stanišić wissen, warum ausgerechnet Fürstenwerder. So viele Menschen! Ich nehme mir vor, gar nichts zu fragen.
Wir gehen alle zusammen durch Fürstenwerder. Eine auffällig große Gruppe. Ich sehe nach, ob in den Fensterrahmen bequeme Kissen zurecht gerückt werden. Am dem Bahnhof, der keiner mehr ist, liegen hinter einem Zaun skelettierte Autos. Der Weg verläuft sich in die Felder. Ich sehe ihm nach und erkenne etwas wieder. Mein Zuhause sieht an manchen Stellen genauso aus. Zerfranste Dorfenden.
Später stehen wir vor Garagen auf einem Parkplatz, der ein Parkplatz ist. Noch später an einem zweiten Bahnhof, der eine Kneipe ist. Da weiß ich ganz sicher, dass ich schon in Fürstenwerder war. Ich weiß, wohin dieser Weg da drüben führt. Ich weiß, wie es dahinter aussieht. Der Juni war kalt. Wir haben versucht, den See zu umrunden, damals. Einen alten LPG-Hof haben wir gefunden. Ich habe Mohnblumen fotografiert, nasse Steine, bepflanzte Treckerreifen. Wir sind umgekehrt, als wir nicht weiterwussten. Die Bahnhofskneipe hat uns aufgewärmt.
An der Stadtmauer liegen kleine Gärten, davor der See. Den Bootsverleih zeigt uns Saša Stanišić, der in seinem Roman die Stelle markiert, an der es einen Fährmann gab. Den Fährmann müssen wir uns vorstellen, und das schaffen wir auch. So, wie er das liest, können wir uns überhaupt alles vorstellen. Nicht vorstellen müssen wir uns die Töpferei. Da verlieben wir uns einfach. In die Töpferin, ihren Hof und ihre Bierkrüge. Am Ende stehen wir vor den Heimatstuben. Wer wie ich aus dem ländlichen Brandenburg kommt, steht niemals freiwillig vor Heimatstuben. Ist gar kein schlechter Platz zum Davorstehen.
Abends fahren wir noch einmal nach Fürstenwerder. An der Badestelle packen die letzten Besucher ihre Sachen zusammen. Eine Gruppe Frauen spielt Volleyball. Wer jetzt noch hier ist, wohnt hier. Das kleine Kind will baden. Das will es deshalb, weil ich baden will. Ich sehe vom Wasser aus an Fürstenwerder hoch. Hinter der Stadtmauer ziehen sich die Häuser auf ansteigenden Terassen empor. Jedes mit Seeblick. Schilf und Weiden. An der Uferpromenade fängt ein Mann an Rasen zu mähen. Sein Nachbar möchte wissen, ob er die Pommes schon fertig hat. Ich möchte auf der Bank davor sitzen bleiben bis morgen früh.